21. November 2024

Geheimdiplomat Egon Bahr

Information

Anlässlich des 90. Geburtstags von Egon Bahr zeigt der MDR das Porträt einer ebenso aktiven wie schillernden Politikerpersönlichkeit: Egon Bahr. Der Mann für die besonderen Fälle.
Quelle: mitteldeutscher rundfunk

http://www.mdr.de/doku/egon-bahr102.html

MDR FERNSEHEN | 18.03.2012 | 23:00 Uhr Der Geheimdiplomat Egon Bahr

Ein Film von Nicola Graef

Er war ein wahrer “homo politicus”: meinungsfreudig, mit klarer Überzeugung, ein Patriot. Keiner, der seine Standpunkte an Umfrageergebnissen orientiert, der politische Visionen mit Machtstrategie verwechselt oder nach attraktiven Angeboten aus der Wirtschaft schielt. Egon Bahr bestimmte an der Seite von Willy Brandt maßgeblich die Ostpolitik der Bundesrepublik mit. Am 18. März feiert der Taktiker und Visionär seinen 90. Geburtstag. Die Dokumentation zeichnet das Porträt einer faszinierenden Persönlichkeit.

Der ehemalige Bundesminister für besondere Aufgaben und Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Egon Bahr.

1922 wird er als Sohn eines Lehrers und einer Krankenschwester in Thüringen geboren. Seine Mutter ist jüdischer Herkunft. Nach der Machtergreifung Hitlers gerät die Familie ins Visier der Nazis. Eine Trennung von seiner Frau, um weiter in seinem geliebten Beruf als Lehrer arbeiten zu können, lehnt der Vater ab. Seine klare ethische Haltung prägt den Sohn. 1942 wird Egon Bahr eingezogen. Der junge Soldat ist von der anfänglich erfolgreichen Kriegsführung der Deutschen begeistert, erkennt aber schnell, wie ambivalent die brutale Wucht des Krieges sich anfühlt. Doch Bahr ist nicht lange Soldat. Als bekannt wird, dass seine Großmutter Jüdin ist, wird er unehrenhaft aus der Wehrmacht entlassen und bei dem Rüstungskonzern Rheinmetall-Borsig dienstverpflichtet. Nach dem Krieg arbeitet er als Journalist, später als Chefkommentator des RIAS. 1956 tritt er der SPD bei.

“Wandel durch Annäherung”

1960 wird Bahr vom damaligen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt ins Presse- und Informationsamt nach Berlin geholt, wenig später wird die Stadt geteilt. Gemeinsam mit Willy Brandt denkt er darüber nach, wie die Mauer durchlässiger gemacht werden könnte. Die Lösung heißt für beide: “Wandel durch Annäherung”, eine Politik der kleinen Schritte, die nicht verschweigt, dass das deutsche Schicksal letztlich nicht gelöst werden kann, ohne  mit den Sowjets darüber zu verhandeln. Diese Idee stößt auf massive Ablehnung. Eine Öffentlichkeit, die seit dem Kriegsende mit den Spannungen und Ängsten des Kalten Krieges zu leben gelernt hat, kann nicht von heute auf morgen umgepolt werden.

Egon Bahr und Willy Brandt

Gemeinsam für die deutsche Einheit: Egon Bahr und Willy Brandt.

1969 zieht Egon Bahr als Staatssekretär ins Bundeskanzleramt. Mit der neu gewählten sozialliberalen Koalition unter Kanzler Willy Brandt weht ein frischer Wind in der bundesdeutschen Politik. Die neuen Entspannungspolitiker rütteln an den alten Grundfesten, setzen auf Verständigung mit dem Ostblock, auf Annäherung und Normalisierung. Bahr träumt noch immer den Traum von der deutschen Einheit. Doch der Gegenwind bläst heftig aus allen Richtungen, auch aus der eigenen Partei.

Noch vor der ersten Regierungserklärung Brandts fliegt Bahr nach Amerika zu Henry Kissinger, dem Sicherheitsberater Präsident Nixons, um dem Weißen Haus die umstrittene neue Ostpolitik nahezubringen. Die USA sind misstrauisch, stellen sich seinen Visionen aber nicht entgegen. Kissinger weiht Bahr in die geheime Welt der informellen Diplomatie ein, mit der man zwischenstaatliche Fragen schnell, unkompliziert und vor allem vertraulich sondieren kann. Bereits Weihnachten 1969 hat Bahr den ersten Kontakt zu einem sowjetischen Geheimdiplomaten in Bonn – ein erster “dünner Draht” nach Moskau und eine äußerst heikle Mission, geht es doch darum, das Verhältnis zum Ostblock völlig neu zu gestalten.

Ein Virtuose der “geheimen Drähte”

Die geheimen Kanäle erweisen sich als hilfreich. Im Januar 1970 macht sich Geheimdiplomat Bahr auf den Weg nach Moskau zu Außenminister Gromyko. Beide Seiten wollen die bestehenden Grenzen in Europa festschreiben und damit jeder Form einer gewaltsamen Revidierung den Boden entziehen. Gleichzeitig beharrt Bahr darauf, dass Deutschland weiterhin sein Ziel einer Wiedervereinigung verfolgen wird, was nicht ohne Grenzveränderungen möglich ist. Es ist der Auftakt zäher und harter Sondierungsrunden, die sich bis in den Sommer hinziehen und am 12. August 1970 im Moskauer Vertrag gipeln. Festgeschrieben wird, dass die Grenzen aller Staaten in Europa unverletzlich sind, insbesondere auch die zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Sie sind “unverletzlich”, aber nicht “unverrückbar”, dies wird bekräftigt in einem beigefügten “Brief zur deutschen Einheit”.

Für Bahr ist der Vertrag ein Erfolg, doch der Marathon geht weiter. Noch fehlt die Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag. In Bonn gibt es erhebliche Widerstände gegen den Vertrag. Man bezeichnete ihn als “Ausverkauf deutscher Interessen”, beklagt fehlende Regelungen über den Status von Berlin und die Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Mächte. Die heftige Debatte führt sogar zu einem Misstrauensvotum gegen Kanzler Brandt. Doch Brandt übersteht die Krise, der Vertrag wird ratifiziert.

Im Gobelin-Saal im Palais Schaumburg in Bonn wurde das Berlin-Transit-Abkommen durch Staatssekretär Egon Bahr vom Bundeskanzleramt (rechts) und Staatssekretär Michael Kohl vom DDR-Ministerrat (links) unterzeichnet.

1971 wird ein Transitabkommen mit der DDR in Bonn unterzeichnet.

Die umstrittene Ostpolitik geht nun in die zweite Runde. Jetzt geht es um engere und bessere Beziehungen zur DDR – in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Sport. Am 21. Dezember 1972 wird ein Grundlagenvertrag unterzeichnet – der erste große Schritt der beiden deutschen Staaten in Richtung Annäherung und Wandel. “Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben, und das ist der Fortschritt”, wird Bahr dazu zitiert.

Mit diesem Vertragsabschluss endet für den Politiker seine politisch einflussreichste und privat anstrengendste Zeit. Zwei Jahre hat er ohne Pause verhandelt. Jetzt ist er körperlich völlig erschöpft und zieht sich für einige Zeit ins Privatleben zurück.

Schwer trifft ihn 1974 die Enttarnung Günter Guilliaumes als DDR-Spion, infolge derer sein langjähriger Freund Willy Brandt zurücktreten muss, dessen persönlicher Referent Guilliaume war. Unter Bundeskanzler Helmut Schmidt wird Bahr 1974 Entwicklungsminister und danach Bundesgeschäftsführer der SPD. Auch wenn die beiden politisch keineswegs immer auf einer Linie sind, steht er ihm loyal gegenüber. In der Folgezeit bleibt Bahr auch jenseits von Regierungsbefugnissen ein Strippenzieher zwischen den beiden deutschen Staaten. 1989 sucht er über seine “heißen Drähte” zur DDR-Führung nach Lösungen für das akute Problem der Botschaftsbesetzungen. Mit dem Fall der Mauer wird Wirklichkeit, was Bahr und Brandt unter der Losung “Wandel durch Annäherung” einst angestoßen hatten: Die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung.

“Niemand hat am Morgen des 9. November 1989 gewusst, was am Abend passieren würde. Diese fabelhaften Dienste haben weder den Bau der Mauer noch den Fall der Mauer vorausgesagt. Es ist Geschichte, mein Gott.”

Egon Bahr

Auch heute hört Egon Bahr nicht auf, sich politisch einzumischen. Die SPD ist stolz auf ihr Ehrenmitglied, denn in unsicheren Zeiten wie diesen sind die Erfahrungen der Alten gefragt. Sie repräsentieren Tugenden wie Pflichtbewusstsein, Arbeitsethos, Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit, Tugenden, die heutzutage so manchem Politiker abgesprochen werden.

MDR Spezial Egon Bahr: Journalist, Diplomat und Politiker

Mit der Formel “Wandel durch Annäherung” leitete Egon Bahr 1963 die Ostpolitik ein. Er verhandlete leidenschaftlich gern und war einer der wichtigsten Mitstreiter Willy Brandts. [mehr]


Zuletzt aktualisiert: 09. März 2012, 17:42 Uhr

 

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